8

Bonnie Blue hatte recht. Der Wetterbericht zeigte eine dunkelgrüne Front mit leuchtend roten und gelben Einsprengseln, die unerbittlich von Westen auf Birmingham zurollte. Fred kam von Osten, und sie trafen gleichzeitig ein. Er öffnete die Küchentür just in dem Moment, als ein gewaltiger Blitz den Himmel aufriss.

„Mein Gott.“ Mit einem Sprung war er in der Küche. „Gibt es Tornadowarnungen?“

„Sie haben schwere Gewitterstürme angesagt. Und dir auch hallo.“ Ich stand am Herd und rührte eine Gemüse-Taco-Füllung zusammen, die Fred ganz besonders mochte.

Er kam zu mir herüber und küsste meinen Nacken. „Hallo, Süße. Das riecht gut.“

Ich drehte mich um und umarmte ihn. Er war zu Hause; jetzt konnte es stürmen. „Wie lief dein Tag?“, fragte ich.

„Cut.“ Er zog seinen Mantel aus und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. „Ich habe herausgefunden, wo das Problem liegt, und Metal Fab ist nicht dafür verantwortlich. Universal Satellite ist dabei, umzustrukturieren, was auch bedeutet, dass ein paar Leute vorzeitig in Ruhestand gehen. Die beiden Jungs, von denen wir die meisten unserer Aufträge bekommen haben, hat es bei der Gelegenheit mit rausgefegt.“ Er setzte sich an den Tisch und blickte hinaus in den Sturm. „Vom Winde verweht.“

Ich stellte die Taco-Füllung auf die hintere Kochplatte und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch.

 

„Der eine war sechsundfünzig“, sagte er. „Und ich bezweifle, dass der andere viel älter war. Beide hatten große Sachkenntnis und waren unkompliziert im Umgang.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist schrecklich, was manche Firmen so tun. Und sie kommen auch noch damit durch.“

„Meinst du, sie haben eine anständige Abfindung erhalten, oder überhaupt eine Abfindung? Sicher mussten sie ihnen doch was zahlen.“

„Aber nichts, was an die Löhne herankäme, die sie bekamen. Man hat sie einfach abserviert, Patricia Anne.“ Er trank von seinem Bier. „Und weißt du was?“

„Was?“

„Sie haben zwei Frauen an ihre Stelle gesetzt.“ Er starrte auf seine Bierdose, als könne sie ihm irgendeine Erklärung liefern. „Was heißt Frauen? Junge Mädchen. Frisch vom College. Nennen sich Metallurginnen!“

„Wie schrecklich“, murmelte ich.

Fred blickte mich mit gerunzelter Stirn an; ich erwiderte unschuldig seinen Blick.

„Eine von ihnen hat >Onkelchen' zu mir gesagt“, bekannte er voller Schwermut.

Donnergetöse und ein plötzlicher Hustenanfall kaschierten mein Lachen. Vor zwanzig Jahren, als ich mich auf dem Höhepunkt meiner persönlichen feministischen Revolution befand, hätte dieser Chauvinist auf der anderen Seite des Tisches mich auf die Palme gebracht. Ich war jedoch milder geworden. Um es vorwegzunehmen, Fred respektiert Frauen wirklich, und nicht nur in traditionellen Rollen. Er hält große Stücke auf unsere Hausärztin, die eine ganz reizende Frau ist, und auf unsere Zahnärztin auch. Er hat sogar für einen „Weiberrock“ bei der letzten Gouverneurswahl gestimmt, wobei er diese Bezeichnung meines Wissens nur einmal benutzt hat. Wenn er mir daher die Tür aufhält oder

 

auf die Außenseite tritt, wenn wir den Gehsteig entlanggehen, sage ich einfach nur „danke“. Und ich bin froh, dass meine Söhne sich ebenso verhalten wie er.

„Sie schienen so weit ganz okay“, fuhr er fort, „müssen aber noch eine Menge lernen. Ich hab sie gefragt, ob sie nach der Arbeit mit mir noch was trinken gehen wollten, woraufhin wir in eine dieser verdammten Coffee Bars gegangen sind. Hast du schon mal von so etwas gehört? Einer Coffee Bar? Ich schwör's dir, in dem Kaffee, den ich bekam, blieb der Löffel drin stehen. Den hätte nicht einmal Juan Valdez persönlich verlangt. Und nach ungefähr zehn Minuten mussten beide gehen. Die eine musste ihr Kind abholen, die andere ins Fitnessstudio.“ Fred blickte hinaus in den strömenden Regen. „Auch gut. Auf diese Weise war ich noch vor dem Sturm zu Hause.“

„War das Gespräch vielversprechend?“

„Keine Ahnung. Ich denke, in einer Woche oder so werde ich es wissen.“

Die Lichter flackerten, gingen aber wieder an. „Ich hole besser die Kerzen“, sagte ich.

Fred trank sein Bier aus. „Ich hoffe nur, Malcolm und Carl geht es gut.“

„Malcolm und Carl?“

„Die Jungs, die sich vorzeitig in den Ruhestand verabschieden mussten.-

Ich stand auf und ging zum Wohnzimmerschrank, um nach den Kerzen zu suchen. „Ruf sie morgen an und frag sie.“

„Zum Teufel, ich ruf sie heute Abend an. Ich bin mir sicher, dass ich ihre Visitenkarten hier habe.“ Fred folgte mir ins Wohnzimmer und schaltete den Wetterkanal ein. „Sieht schlecht aus“, sagte er. „Ist diese Neon-Taschenlampe im Schrank?“

 

„Hier ist sie.“ Ich reichte ihm die Lampe zusammen mit ein paar Kerzen. Es war gut möglich, dass sie bald gebraucht würden. Es bedarf keines sehr heftigen Sturms, um das Stromnetz in Birmingham lahmzulegen.

Dafür gibt es eine einfache Erklärung. In dieser Stadt stehen viele Bäume: Kiefern, Eichen, Ahorn, Kirschlorbeer. Und die Bewohner dieser Stadt wissen diese Bäume zu schätzen -jeden einzelnen. Infolgedessen liegen die Einwohner in permanentem Streit mit der Alabama Power Company. In einer Szene, die sich täglich ein Dutzend Mal wiederholt, fährt ein Lastwagen der Stromgesellschaft in irgendeine Einfahrt, und Männer springen heraus, um Baumäste abzusägen, die über Starkstromleitungen hängen.

Wir Anwohner rennen raus. „Himmel noch mal, sind Sie verrückt? In diesem Baum ist ein Rotkehlchennest!“ Oder das eines Eichhörnchens, eines Opossums oder Eichelhähers.

„Wo?<- Die Männer laufen um den Baum herum und blicken an den Ästen hoch.

„Da, neben dem obersten Ast, hinter der zweiten Astgabel. Sehen Sie es?“

Die Männer von der Stromgesellschaft sehen es. Es sind nette Männer. Sie erklären sich damit einverstanden, in sechs Wochen wiederzukommen. Vielleicht kommen sie auch schon in drei Wochen wieder, weil im Viertel die Lichter ausgegangen sind. „Verdammte Stromgesellschaft!“, beschweren wir uns dann.

So weit, so gut. Die Lichter flackerten ein paar Mal, blieben aber, während wir zu Abend aßen, an. Ich erzählte Fred von Georgiana Peach und dass Trinity nach Hause gefahren war. Ich erzählte ihm auch von der Abschiedsparty, die ich für eine großartige Idee hielt.

„Beerdigungen sind einfach zu traurig“, sagte ich.

 

Fred biss geräuschvoll in seinen dritten Taco. „Das sollen sie ja auch sein.“

„Sie müssen es aber nicht“, insistierte ich.

„Natürlich. Es sind Beerdigungen.“

Ich dachte darüber nach, wie wenig Sinn das ergab, be-schloss aber, nicht weiter zu insistieren. Manchmal -und er würde tot umfallen, wenn er das wüsste - erinnerte mich Fred an Mary Alice.

Als wir zu Bett gingen, war der Sturm vorüber, und leichter Dauerregen fiel auf die Oberlichter. Ein schöner Frühlingsregen.

Als ich am nächsten Morgen mit Woofer seinen Spaziergang machte, war es beträchtlich kühler, und gelegentlich verdunkelte eine dunkle, bauschige Wolke die Sonne. Der Gehweg war mit Kirsch- und Pfirsichblüten bedeckt. Dem Hartriegel hatte der Sturm offenkundig gutgetan. Seine Blüten schienen sich weiter geöffnet zu haben und über Nacht weißer geworden zu sein.

„Es ist ein guter Morgen“, sagte ich zu Woofer, der mir beipflichtete. Der Morgen war so schön, dass wir unseren Spaziergang länger als gewöhnlich ausdehnten. Als wir zu Hause ankamen, spürten Woofer und ich beide unsere sportliche Betätigung in den Knochen. Er lief schnurstracks zu seiner Wasserschüssel und ich zu meiner Kaffeekanne. Der Anrufbeantworter blinkte, und ich hörte ihn ab. Es war Mary Alice, die mich um einen unverzüglichen Rückruf bat. Ich nahm eine ausgiebige heiße Dusche und rollte mich auf dem Wohnzimmersofa zusammen, bevor ich sie anrief.

„Ich bin's“, sagte ich, als sie abnahm.

„Ich fasse es nicht, Maus. Da gruselt's einen ja richtig. Als ich davon gehört habe, habe ich >Hoppla, was ist denn hier los?< gesagt. Ging es dir nicht auch so?“

 

Ich fuhr mir mit den Fingern durchs nasse Haar. „Wovon sprichst du?“

„Vom Mord an Richter Haskins, Maus. Wovon sonst?“

Kinen Augenblick lang war ich sprachlos. Ich presste den Hörer an mein Ohr, während Schwesterherz fragte: „Maus? Alles in Ordnung mit dir?“

Schließlich stammelte ich: „Richter Haskins wurde ermordet? „

„Das hast du nicht gewusst? Es war heute früh auf allen Fernsehsendern.“ Schwesterherz schien über meine Unkenntnis entzückt. „Ich komme gleich rüber zu dir.“ Sie legte auf, bevor ich noch eine Chance hatte, sie nach irgendwelchen Einzelheiten zu fragen.

Ich griff nach der noch zusammengefalteten Morgenzeitung, löste das Gummiband, das um sie herumgerollt war, und starrte auf ein Foto von Richter Haskins, das mindestens zwanzig Jahre alt war. Die Schlagzeile lautete Richter Robert Haskins Opfer von Gewaltverbrechen. Der Begleittext war offenkundig gerade noch rechtzeitig vor Redaktionsschluss geschrieben worden und wartete mit nur wenigen Details auf. Der Richter war in der vergangenen Nacht erschossen in seinem Haus aufgefunden worden. Eine Freundin hatte ihn entdeckt und die Polizei benachrichtigt. Der Rest des Artikels befasste sich mit den Einzelheiten der Karriere des Richters, wobei mindestens viermal das Wort „prominent“ fiel.

„Er war nackt“, sagte mir Mary Alice ein paar Minuten später. „Er lag splitterfasernackt in seinem Wohnzimmer. Und die Person, die ihn gefunden hat, heißt Jenny Louise.“

Wir saßen an dem Tisch am Erkerfenster, und das Foto von Richter Haskins starrte uns aus der Zeitung an.

„Jenny Louise wie?“, fragte ich.

„Das ist ihr Bühnenname. Sie ist Stripperin in Cigis

 

Co Co. Er wurde in die Stirn geschossen. Direkt hierhin.“ Schwesterherz deutete auf die Mitte ihrer Stirn. „Nur ein Schuss.“

Ich sah sie erstaunt an. „Woher weißt du denn das alles? In der Zeitung steht nur, dass er ein Opfer von Gewalt wurde und dass ihn eine Freundin gefunden hat.“

„Buddy hat es mir gesagt.“

„Buddy? Rübezahl? Der Mann mit dem Jet? Woher hat er denn das?“

„Die Stadt ist klein, Patricia Anne. Buddy hat Beziehungen. Er rief mich heute früh an und sagte: >Mary Alice, du hast doch letztens abends von Bobby Haskins gesprochen und willst doch sicher gern ein paar Details erfahren^ Jedenfalls so was in der Art.“

„Er weiß offenbar schon, was für ein Spaßvogel du bist, richtig?“

„Ja, in der Tat, das weiß er, Miss Superschlau. Aber möchtest du vielleicht den Rest auch noch hören?“

Ich musste einräumen, dass dies der Fall war.

„Nun, anscheinend leben Richter Haskins und seine Frau seit mehr als einem Jahr getrennt, hauptsächlich weil Bobby mit Jenny Louise gedingelt hat.“

„Gedingelt?“

„Buddy Johnson ist ein Gentleman, Maus. Das Wort ist so gut wie jedes andere.“

„Ich versuche es mir zu merken.“

Mary Alice sah mich stirnrunzelnd an. Ich lächelte.

„Jedenfalls“, fuhr sie fort, „als Jenny Louise letzte Nacht hereinkam - ich nehme an nach der Arbeit -, da lag der Richter im Wohnzimmer, nackt wie ein gerupftes Hühnchen. Sie sagte, zuerst habe sie gedacht, er warte auf sie, dann hat sie aber das Loch in seinem Kopf entdeckt.“ Schwesterherz blickte gedankenvoll in ihre Kaffeetasse.

 

„Ich nehme an, dass schon eine leichte Totenstarre eingesetzt hatte.“

Ich stimmte ihr zu. „Hat Buddy dir das alles erzählt?“

„Nicht das mit der Totenstarre, Maus.“

„Er ist ein Gentleman.“

„Ja, das ist er. Aber weißt du, was ich auf dem Weg hierher gedacht habe?“

„Was?“

„Dass ich froh bin, dass Trinity in Fairhope ist. Mit ihrem Einbruch in das Haus und der Behauptung, Richter Haskms habe ihre Schwester umgebracht, wäre sie eine der Hauptverdächtigen.“

„Das habe ich auch schon gedacht.“

„Wir sollten sie vielleicht anrufen und ihr das mit dem Richter erzählen. Das interessiert sie doch bestimmt.“

Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer. „Ich habe die Nummer hier irgendwo.“ Ich warf einen Blick in die Schublade des Beistelltisches. „Hier ist sie.“ Ich drückte Mary Alice das Telefon und die Nummer in die Hand. „Erzähl du es ihr. Aber erzähl ihr nur, dass er tot ist. Komm nicht auf diese dingelnde Jenny Louise zu sprechen.“

Schwesterherz blickte mich streng an und wählte die Nummer.

„Trinity?“, sagte sie einen Augenblick später. „Ach? Jo? Sie klingen ganz wie Trinity. Hier ist Mary Alice Crane aus Birmingham. Kann ich bitte Trinity sprechen?“

Der Ausdruck auf dem Gesicht meiner Schwester wechselte sichtbar, während sie aufmerksam lauschte.

„Nicht?“ Pause. „Nein, wir haben das sicher missverstanden.“ Lange Pause. „Nein. Machen Siesich keine Sorgen.“ Erneute Pause. „Ja, ich rufe Sie an, wenn ich sie sehe. Und bestellen Sie ihr bitte, dass sie sich bei mir meldet, wenn sie zu Haus auftaucht. Danke.“

 

Mary Alice legte auf und sah mich an. „Sie ist gestern nicht nach Hause gekommen.“

Ich hatte mir das schon zusammengereimt, und mein Magen verkrampfte sich. „Du hast sie an der Garage abgesetzt, oder?“

„Nein, ich habe gewartet, bis sie ihr das Auto gebracht haben. Ich habe sie noch gesehen, wie sie den Weg zur Autobahn nahm.“

Wir waren beide einen Moment lang ruhig und dachten nach. Dann sagte ich: „Das heißt nicht, dass sie irgendwas mit dem Tod des Richters zu tun hat.“

„Natürlich nicht.“ Mary Alice musterte den Ärmel ihres Rollkragen-T-Shirts. „Ich brauche Klebeband. Kater Bubba verliert wie blöd Haare.“

Ich zog die Krimskramsschublade in der Küche auf und reichte ihr eine Rolle. „Die Polizei wird aber dennoch auf der Suche nach ihr sein, um sie zu befragen.“

„Vielleicht hat sie sich verfahren.“ Mary Alice riss ein Stück Klebeband ab und presste es auf ihr T-Shirt. „Sie kam mir ohnehin ein wenig seltsam vor.“

„Auf einmal?-

„Na ja, du weißt doch, was ich meine. Erst sollte ich ihr dabei helfen, sich hier zurechtzufinden, und dann ist sie einfach so verschwunden. Und ständig wollte sie wissen, wie groß jemand ist.“

„Vielleicht sind all ihre Schwestern klein, und es hilft ihr, den existenziellen Stress zu verarbeiten.“

Mary Alice hob den Kopf. „Mein Gott, was sind wir heute tiefgründig!“

„Trinitys Fragerei nach der Körpergröße ist nur eine persönliche Macke, Schwesterherz. Wir haben alle welche.“

„Ich nicht.“ Schwesterherz riss ein weiteres Stück Klebeband von der Rolle.

 

Ich ließ den Satz unkommentiert. „Also, sie kann sich nicht verirrt haben. Auf der Autobahn? Ausgeschlossen.“

„Natürlich kann sie. Erinnerst du dich noch an den Mann, der letztes Jahr zum Zahnarzt nach Pell City wollte, auf der Autobahn die Einfahrt Richtung Norden statt Richtung Süden erwischt hat und am Ende in Cincinnati oder so gelandet ist? Der Zahnarzt hat ihn umsonst behandelt, als sie ihn gefunden haben. Ich fand das damals nett.“ Sie hielt mir das Klebeband unter die Nase. „Ich denke, Bubba braucht ein paar Hormone. Was meinst du?“

Ich schüttelte den Kopf. „Er wirft nur sein Winterfell ab. Und Trinity streift irgendwo oben in Ohio umher.“ Ich setzte mich in den Sessel gegenüber meiner Schwester. „Weißt du, es ist auch möglich, dass die Polizei uns befragen will.“

„Uns? Das ist doch lächerlich.“

„Nun, wir waren diejenigen, die Trinity im Gefängnis abgeholt haben.“

„Ich nicht.“ Mary Alice hörte auf, Klebeband von ihrem T-Shirt zu rupfen. „Du.“

„Aber die sind doch nicht blöd. Sie wissen, dass Meg Bryan Richter Haskins' Ex-Frau war. Und bei dir zu Cast.“

Mary Alice blickte mir gerade in die Augen und hatte tatsächlich die Nerven, mir zu sagen: „In was hast du uns da wieder hineingeritten, Patricia Anne?“

Ich beschloss, sie zu ignorieren. Das machte ich im Grunde ziemlich oft. Tatsächlich war mir über dem schwesterlichen Disput aber gerade ein Gedanke gekommen. Was, wenn Trinity Leichnam Nummer drei war?

„Mit Sicherheit nicht!“, sagte Schwesterherz, als ich diese Überlegung äußerte.

„Warum nicht? Sie könnten alle drei etwas gewusst oder in der Handgehabt haben, worauf der Mörder scharf war.“

 

„Himmel, Maus! Da gehr dir aber die Phantasie durch. Meg hat Selbstmord begangen, der Richter wurde wegen Jenny Louise von seiner Frau erschossen, und Trinity hat sich einfach verfahren.“

„Zu viele Zufälle. Ich hole mal ein Blatt Papier.“

„Wofür?“

„Um aufzuschreiben, was wir wissen.“

„Ich weiß gar nichts.“ Schwesterherz drückte sich ein Stück Klebeband an ihren üppigen Busen.

„Sei nicht albern.“ Ich kam mit einem gelben Schreibblock und einem Schreibstift zurück und setzte mich neben sie aufs Sofa. „Hier“, sagte ich, „schau her.“ Ich zeichnete drei Figuren und schrieb Meg, Richter und Trinity darunter. Vielleicht ist es die alte Lehrerin in mir, aber es hilft mir beim Denken, wenn ich etwas zu Papier bringe.

„Warum ist der Richter in der Mitte?“, fragte Mary Alice.

„Weil ich ihn dorthingesetzt habe. Jetzt pass auf.“ Ich zog eine Linie von Trinity zu Meg und schrieb „Schwester“ darüber. Dann zog ich eine Linie vom Richter zu Meg und notierte „verheiratet“.

„Schreib >vor langer Zeit' dazu.“

„Dafür habe ich keinen Platz.“ Ich blickte auf meine Zeichnung. „Jetzt lass uns über andere Beziehungen nachdenken. Frei von der Leber weg.“

Schwesterherz deutete auf den Zwischenraum zwischen den Trinity- und Richter-Strichmännchen: „Zeichne dort eine Linie ein und schreib >stinksauer< hin.“

Ich malte die Linie, sagte aber: „Sie war stinksauer, weil sie der Meinung war, dass er Meg umgebracht hat. Und sie dachte, der Grund dafür wären die Unterlagen, die die uneheliche Abstammung seines Ururgroßvaters belegen.“ Ich schrieb „uneheliches Kind“ auf die Linie.

„Aber er beschäftigte sich doch auch mit Ahnenfor-

 

schling, weshalb er die Unterlagen sicher bereits kannte und damit gar nicht mehr erpressbar war.“

„Ahnenforschung“, schrieb ich. Mir fiel etwas ein. „Hast du Megs Computer gefunden?“

„Nein. Er ist nicht im Haus. Ich schwöre dir, Maus, ich habe alles auf den Kopf gestellt. Ich habe mir sogar dabei von Tiffany helfen lassen.“

Schwesterherz ist der einzige Mensch, den ich kenne, der eine Haushaltshilfe namens Tiffany hat. Die Patente Putzfee. Sie verdient wesentlich mehr Geld, als ich das je mit Unterrichten getan habe. Darüber hinaus sieht sie wirklich aus wie eine Tiffany mit ihrem blondgesträhnten Haar und ihrer phantastischen Figur, die sie mit Saubermachen in Form hält, wie sie sagt. Es ist kaum zu glauben. Sie macht ihren Job jedenfalls großartig, weshalb, wenn sie den Computer nicht finden konnte, dieser auch bestimmt nicht da war.

„Das ist, denke ich, wichtig.“ Ich schrieb „Computer“ und zog zwei Linien-eine zu Megund eine zu dem Richter. „Könnte Richter Haskins Alarmanlage vielleicht der deinen so ähneln, dass er es geschafft hat, sie auszuhebeln? Sie irgendwie zu umgehen?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe meinen eigenen Code.“

„Die ersten sechs Ziffern deiner Sozialversicherungsnummer!“

„Die kennt niemand außer dir und Debbie.“

„Das ist der zweithäufigste Code. Gleich nach den Geburtstagen.“

Mary Alice rutschte auf ihrem Stuhl vor. „Er könnte die Nummer aus jedem beliebigen Dokument haben, das es von mir im Gericht gibt, richtig?“

„Klar. Sogar aus Prozessprotokollen.“

 

Wir grinsten uns an.

„Aber er hatte nichts mit Megs Tod zu tun“, sagte ich.

„Woher weißt du das?“

„Weil er es gesagt hat, als er Megs Asche vorbeibrachte. Er sagte, ich solle es Trinity bestellen.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Es war offensichtlich, dass er nicht log.“

„Okay“, gab sich Schwesterherz einverstanden, „lass uns zu der Liste zurückkehren.“

Aber wir kamen nicht weiter. Falls — was durchaus möglich war - Richter Haskins es geschafft hatte, in das Haus von Schwesterherz einzudringen und den Computer und die anderen Unterlagen mitzunehmen, dann waren wir nach wie vor mit der zentralen Frage konfrontiert: warum? Keine von uns kannte sich genügend mit Ahnenforschung aus, um eine Vorstellung davon zu haben, was die Unterlagen so interessant machte, dass jemand sie stehlen wollte. Oder einen Mord dafür begehen.

Das Telefon läutete, und ich ließ Mary Alice weiter die Strichmännchen studieren, während ich dranging.

„Carl und Malcolm sind in Augusta und spielen Golf“, sagte Fred. „Carl hat seinen Anrufbeantworter abgehört und die Nachricht, die ich gestern Abend hinterlassen habe.“

„Der Vorruhestand hat sie also nicht umgehauen?“

„Zum Teufel, nein. Sie haben gesagt, ich sollte mich ihnen doch anschließen.“

„Hättest du denn dazu Lust?“ Ich fand, dass seine Stimme ein wenig sehnsuchtsvoll klang.

„Ich habe ihnen gesagt, dass es für mich zu spät für den Vorruhestand ist.“

„Mit dreiundsechzig ist es nicht zu spät. Wir könnten uns die Welt ansehen.“

„Träum weiter. Wir sollten froh sein, wenn wir es gelegentlich mal in einen Nationalpark schaffen.“

 

„Alabama hat wundervolle Nationalparks.“

„Stimmt.“ Wir schwiegen beide einen Moment lang und hingen unseren Wünschen nach, als ich Schwesterherz kreischen hörte.

„Was war das?“, fragte Fred.

„Schwesterherz ist hier. Hast du mitbekommen, dass Richter Haskins gestern Abend ermordet wurde?“

„Ja. Das ist einer der Gründe, weshalb ich anrufe. Lass dich da nicht reinziehen, Patricia Anne.“

„Mach dir keine Sorgen“, sagte ich.

Mary Alice kreischte: „Maus!“

„Lass mich sehen, was sie will. Ich liebe dich, mein Schatz!

„Ich liebe dich auch. Und du hörst auf mich.“

„Großes Ehrenwort.“ Ich legte auf und ging ins Wohnzimmer. „Was ist denn los?“

„Da draußen steht ein Polizeiauto vor der Tür.“

„Mein Gott. Was machen wir jetzt? Ich hab's ja gesagt. Die wollen uns bestimmt über Trinity und Meg ausfragen.“

„Polizisten machen mich immer nervös.“

„Weil du permanent zu schnell fährst.“

„Tu ich nicht!“, protestierte Schwesterherz.

Es klingelte, und ich ging an die Tür, um mich von einem bekannten Gesicht anlächeln zu lassen, nämlich dem von Officer Bo Mitchell. Schwesterherz und ich hatten mit ihr kurz vor Weihnachten Bekanntschaft geschlossen, als wir in ein äußerst scheußliches Verbrechen in einer Kunstgalerie hineingeraten waren.

„Was treiben Sie denn schon wieder, Patricia Anne?“, sagte Bo grinsend. „Ich sag's ja, mit euch Mädels hat man nichts als Arger.“

Bo, die bereits an Weihnachten mollig gewesen war, hatte noch ein paar Pfunde zugelegt und erinnerte mich mehr

 

denn je an Bonnie Blue. Bos Haut war dunkler und hatte nicht Bonnie Blues kupferfarbenen Ton. Bo war außerdem ungefähr zwanzig Jahre jünger. Aber sie ähnelten sich definitiv, nicht nur aufgrund ihres strahlenden Lächelns, sondern auch aufgrund ihrer ganzen Art. Bonnie Blue fühlte sich „wohl in der eigenen Haut“, wie sie's selbst nannte. Bo strahlte dieselbe Stärke und Sicherheit aus.

„Verfugt die Polizei in diesem Viertel nur über eine Beamtin?“, fragte ich. „Oder wie kommt es, dass wir am Ende immer bei Ihnen landen?“

„Sie haben einfach Glück, denke ich.“

Wir umarmten einander, und sie trat ins Haus.

„Mary Alice ist hinten im Wohnzimmer“, sagte ich, „und kaut an den Fingernägeln.“

„Ist sie wieder zu schnell gefahren?“

„Und den Bußgeldbescheid hat sie wahrscheinlich auch wieder ignoriert.“

„Ha, diese Frau gehört sofort verhaftet.“

Schwesterherz erkannte Bos Stimme und kam, um sie mit einer Umarmung zu begrüßen. Ich holte für uns alle Cola, und wir setzten uns.

„Okay“, sagte Bo, als sie ihr Notizbuch aufgeschlagen hatte, „erzählen Sie mir als Erstes etwas über die Springerin.“ Sie blickte in ihre Aufzeichnungen. „Margaret Bryan. Es heißt, Sie haben sie gekannt und sie sei bei Ihnen zu Besuch gewesen, bevor sie beschloss, Vögelchen zu spielen.“

„Sie war wegen der Hochzeit meiner Tochter hier und ist die Cousine des Bräutigams“, begann Mary Alice.

Eine Stunde später waren wir bei Richter Haskins angelangt und wie er Megs Asche angeliefert hatte. Ich machte uns ein paar Sandwiches mit pikantem Frischkäseaufstrich, und wir aßen sie, während wir die Geschichte damit abschlössen, wie wir versucht hatten, Trinity anzurufen.

 

„Obwohl ich mir sicher bin, dass alles in Ordnung ist mir ihr“, sagte Schwesterherz.

„Ist es auch“, sagte Bo Mitchell. „Sie hat die letzte Nacht in einem Motel in Montgomery verbracht.“

„Woher wissen Sie das?“, fragte ich.

„Hey, Sie können uns einfach mal was glauben.“ Bo blätterte ein paar Seiten in ihrem Notizbuch zurück. „Gestern hat sie einen englischen Kohlenkasten mit Messingintarsien gekauft und ein paar Tischtücher aus den fünfziger Jahren, diese weißen mit Früchtemuster am Saum, die man damals auf diese Resopaltische mit Chrombeinen gelegt hat. Wissen Sie, wovon ich rede?“

Mary Alice und ich sahen uns an. „Ich habe noch welche“, räumte ich ein.

„Nun, jetzt wissen Sie, dass es einen Markt dafür gibt.“ Bo stopfte sich den letzten Bissen ihres Sandwiches in den Mund und nahm sich einen Zitronenkeks.

„Es geht doch nichts über Bescheidenheit bei der Polizei“, murmelte Schwesterherz.

Bo grinste, nahm zwei weitere Kekse und stand auf. „Ich muss wieder los. Passen Sie bloß auf sich auf!“

Ich brachte sie zur Tür, wo sie sich mit ernstem Gesicht umdrehte. „Kugeln im Kopf und Leute, die aus dem Fenster geschubst werden, sind nicht lustig. Sie sollten sich da raushalten. Okay?“

„Lassen Sie's gut sein. Wir waren in der Vergangenheit in eine Reihe unglücklicher Ereignisse verstrickt.“

„Das ist eben so passiert, nicht wahr?“

Ich grinste. „Das Motiv ist in dem Computer versteckt, richtig?“

„Wissen Sie was, Patricia Anne, ich surfe eine Weile im Internet und lasse es Sie dann wissen.“

„Schlaumeierin.“

 

Bo lachte ihr tiefes Lachen und machte sich auf den Weg die Auffahrt hinunter. „Danke für das Sandwich“, rief sie zurück.

Hinter mir zerriss Schwester herz den Zettel mit den Strichmännchen.

„Nun denn, wenigstens ist Trinity okay“, sagte ich. „War nur einkaufen.“

Mary Alice ließ das Papier in den Abfallkorb fallen. ->So viel zu deinen detektivischen Theorien. Lass mal sehen, wie viel von diesen Tischtüchern du noch hast.“